19.05.2008

Der Zug ohne "e"

Gut, neu ist das nicht, aber ich bin erst vor kurzem darüber gestolpert: Einer der sich Michel Thaler nennt - ein Franzose - hat 2004 einen Roman mit 233 Seiten herausgebracht, den er "Le Train de nulle part" nennt und in dem keine Verben vorkommen.

Was? Verben? Ja, Verben. Tätigkeits-Wörter, Tun-Wörter, Verben eben, Grundbestandteile unserer Sprache.

Und warum? Thaler beschreibt Verben als Usurpatoren, Tyrannen und Eroberer der Sprache und vergleicht das Beseitigen der Verben wie das kaputtschlagen von Front- und Heckscheibe in einem Auto. Vergangenheit und Zukunft werden somit unsichtbar und alles findet im Hier und Jetzt statt.

Nette Begründung - aber totaler Blödsinn. Vor allem, weil er für dieses Statement auf Verben nicht verzichtet. Aber die Franzosen haben eine Tradition von Leuten, die der Sprache unter die Haube schauen. 1960 gründete sich in Paris die literarische Gruppe OuLiPo - Ouvroir de Littérature Potentielle (Werkstatt für potentielle Literatur), die sich die Aufgabe stellte der Sprache Zwänge aufzuerlegen und zu sehen, was dann dabei herauskommt.
Und so falsch scheinen sie damit nicht gelegen zu haben, schließlich schlossen sich der Gruppe unter anderem Marcel Duchamp und Italo Calvino an. Und ein Mann mit namen Georges Perec.

Mit drei "e" im Namen lag es wahrscheinlich nahe seinen Kriminalroman "La Disparition" (Das Verschwinden) komplett ohne diesen Buchstaben zu schreiben. Ein Lipogramm von über 300 Seiten!

Und was mich noch mehr beeindruckt: Eugen Helmlé hat das Ganze auch noch ins Deutsche (Anton Voyls Fortgang) übersetzt, Gilbert Adair und nochmal Ian Monk ins Englische (A Void).

Aber schon 1939 hat Ernest Vincent Wright "Gadsby" geschrieben und auch in dessen 50100 Wörtern sucht man vergeblich nach dem Vokal "e". Es heißt der Autor sei 66jährig an dem Tag gestorben an dem sein Werk schließlich erschienen ist.

Warum macht man so etwas? Warum tut man sich solche Schmerzen an? Jeder der es mal ausprobiert hat weiß, dass das Schreiben von Lipogrammen genauso anstrengend ist wie das Verfassen eines Sonettkranzes oder ähnlicher Spielereien.

Eine Antwort darauf ist die der Bergsteiger: "Die Aufgabe ist da, also gibt es auch jemanden, der versucht sie zu lösen."
Aber es gibt auch eine "sinnvolle" Antwort auf die Frage. Dadurch dass man sich willkürlich Beschränkungen auferlegt merkt man, das auch die uneingeschränkte, "normale" Sprachweise nicht frei von Grenzen ist, die den Horizont festlegen in dem geschrieben und auch gedacht werden kann.
So wie es kein einfaches allgemeingültiges Wort für "nicht durstig" gibt, fehlen auch viele andere Konzepte und unserer Sprache, die wir aber auch nicht weiter vermissen.

Einen guten Roman macht das noch nicht, aber wenn es nicht irgend wann mal jemanden mit der fixen Idee gegeben hätte, dass sich Zeilenenden reimen müssen, könnten heute nicht irgendwelche anderen Leute die fixe Idee haben sich Gedichte auf den Rücken tätowieren zu lassen.

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