06.10.2008

Lektionen in Berlin

Meine Freundin Anja stammt aus Berlin und das bringt es mit sich, dass ich ein paar Mal im Jahr mit ihr zusammen die A9 hochfahre, Hörspielen und dem Verkehrsfunk lausche, auf Autobahnraststättentoiletten versuche die Luft anzuhalten und mir die Hände auf die Ohren lege, wenn sie beim Anblick des Fernsehturmes in Freudenschreie ausbricht.
Es macht Spaß, ziellos durch Berlin zu laufen. Es macht überhaupt Spaß ziellos herumzulaufen und ich habe das viel zu lange schon nicht mehr gemacht.
Nein, "Spaß" ist das falsche Wort. Es ist weiniger spaßig als vielmehr lehrreich.
Es zeigt mir, was mir gefällt, wovon ich fälschlicherweise annehme, dass es mir gefällt und es zeigt mir, was für ein Mensch ich bin.
Ich für mich, ohne einen Antrieb von außen.

Ich bin am Alexanderplatz ausgestiegen und das kleine Oktoberfest, das man auf dem Platz vis-a-vis der Weltzeituhr aufgebaut hatte, hinter mir lassend, in Richtung rotes Rathaus gegangen.
Ich habe den Gedanken und den Beinen freien Lauf gegeben, bis mich die Bibliothek an der Breiten Straße mit der Option auf eine Toilette aufgehalten hat. Gleich nebenan stehen die Reste des Palastes der Republik, ein paar marode Eckzähne, die sich aus dem Kies erheben und ich habe gleich ein paar Touristen fragen hören, was da früher mal stand.
Ich bin weiter zur Museumsinsel und habe sämtliche Museen links bzw. rechts liegen gelassen. Da erfährt man zwar einiges, aber meist wenig über sich selbst. Es ist schon ein wenig aussichtsreicher, sich auf sein Fahrrad zu schwingen und die Leute lauthals als Zuhälter zu beschimpfen. Naja, solche Leute gibt es überall, nicht nur auf der Museumsinsel.

Von da an wurde es dann langsam interessant und ich habe angefangen zu lernen, bzw. mich daran zu erinnern, wer ich bin und wer ich nicht bin. Ich habe mich über die Krähen gefreut, die am Schiffbauerdamm Nüsse auf den makellosen Beton geworfen haben, um an den Inhalt heranzukommen und ich bin unentschlossen vor dem Eingang zum Marie-Elisabeth-Lüders-Haus gestanden. Ein Schild hat auf "The J street project" von Susan Hiller hingewiesen, ein anderes auf das Mauer-Mahnmal, aber ich bin draußen geblieben und habe mich gefragt, warum. Interessiert mich das? Wenn nein, was mache ich dann hier? Weiß ich überhaupt was mich interessiert?
Ich glaube, ich kann Leute verstehen, die die Welt anschreien oder depressiv werden. Es ist nicht so sehr die Ausweglosigkeit ihrer Situation als vielmehr die Macht der Emotionen, die man auf diese Weise spüren kann. Selbstmittleid ist wie eine Droge und man kann in ihr versinken wann man will und so lange man will. Selbstmittleid bestätigt sich selbst. Je schlechter man sich fühlt, desto weniger bringt man zuwege, je weniger man zuwege bringt, desto schlechter kann man sich fühlen. Und es macht auf eine seltsame Art und Weise Spaß. Wie Narziss nicht mehr von seinem Spiegelbild losgekommen ist, drehen sich die depressiven Gedanken um die Schlechtigkeit der Welt, aber vor allem um eines: um das eigene Ich.
Nichts schmeichelt mehr als wenn jemand an einen denkt und wenn dieser jemand man selbst ist.
Man kann sich zwar nicht selber kitzeln, aber man kann sich selber schmeicheln. Seltsam, oder?
Zu meiner Verteidigung kann ich nur sagen, dass die Brachialarchitektur des Berliner Regierungsviertels nicht nur Krähen zum Nüsseknacken dient, sondern auch aufs Gemüt schlagen kann.

Also bin ich schnell weitergegangen, vorbei an einem Eisstand, der bei 10° C tapfer ausgeharrt hat in Richtung Wedding bzw. Prenzlauer Berg.
An der Albrechtstraße Ecke Reinhardtstraße habe ich den ehemaligen Reichsbahnbunker umrundet und mich gefragt, was sich darin wohl verbirgt. Keine Schilder, keine Hinweise. Jetzt weiß ich, worauf ich auch selber hätte kommen können: In dem Bunker ist heute die Kunst der Sammlung Boros. Klar: Da hat man es nicht nötig zu verraten wer oder was man ist oder sogar Werbung zu machen. Igitt, Werbung!
Als nächstes bin ich über RSVP gestolpert, einen klitzekleinen Laden, der Papier, Karten, Notizbücher usw. verkauft. Ich konnte nicht widerstehen und hab mir eine Dose Coccoina gekauft. Papierliebhaber wissen was das ist. Alle anderen sollten sich schleunigst einen Papierliebhaber als Freund suchen. Schon allein der intensive Geruch nach Mandeln zaubert Ideen von Büttenpapier und Aquarellfarbe in meinen Kopf.
Spätestens von da ab war ich auf der richtigen Fährte. Nach ein paar Buchhandlungen hat mich mein Magen in den Waffel- und Creppes-Laden Kitti gezogen. Kitti ist einer dieser Läden, bei denen man sich spontan wünscht zur Stammkundschaft zu zählen. Die Waffeln sind lecker, die Waffelbäckerinnen bestimmt auch und spätestens jetzt, wenn es kalt wird, ist Kitti die Oase in Berlin Mitte, um die man nicht drumrumkommt.
Der Weg zurück zur U5 war dann nicht weiter erwähnenswert. Ich habe mich zumindest erfolgreich dagegen gewehrt Geld zu spenden. Ja, gut, es wäre für einen guten Zweck gewesen, aber irgendwann muss man lernen nein zu sagen. Und zwar nicht von vornherein, sondern nachdem man sich das Angebot angehört hat. Ein paar ziellose Spaziergänge habe ich Gott sei Dank schon hinter mir.

Und was habe ich aus diesen paar Stunden gelernt?

1. Kunst hat es nicht nötig sich anzupreisen (und wird deswegen meist prompt links liegen gelassen)

2. Wer am Schiffbauerdamm in Depressionen verfällt, muss sich dafür nicht schämen.

3. Man braucht nicht viel, wenn man das Richtige findet.

4. Nicht zu kommunizieren ist nicht verkehrt, aber man verpasst einiges.

5. Berlin ist immer 6 Stunden oder mehr auf der A9 wert.

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